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"Hier hat mich der Herrgott hingestellt"

 

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Madame Kern

Agnes Kern begegneten wir in den ersten Tagen hier in Dignac, vor ca. 20 Jahren. Bei einem Einkauf in Le Centre sahen wir sie zum ersten Mal: "Ich habe gehört, Sie haben Probleme beim Zoll...". Wir waren sehr erstaunt. Wer war sie, woher wusste sie das? Vor uns stand eine ältere Frau, an der einen Hand einen Jungen, der nach Hause gebracht wurde, an der anderen ein Fahrrad. "Ich kenne da jemanden, der jemanden kennt, der mit der Frau verheiratet ist, deren Vetter beim Zoll arbeitet..." so oder vielleicht sogar länger, das weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall konnten wir am anderen Tag den verplombten LKW mit Fahrer in Le Verdon abholen.

In unserer Anfangszeit hier war uns Madame Kern dann bei vielem behilflich, bei Behörden, vor allem aber bei Diskussionen mit den vielen Handwerkern. Sie kochte oft für uns, hatte immer ihr Spezialgebäck "Merveille" da. Später, als dann oft Gruppen von bis zu zwanzig meiner Studenten hier waren, hat sie Quartiere besorgt und oft für alle gekocht und gebacken.

"Hier hat mich der Herrgott hingestellt, hier tue ich mein Bestes", das hat sie nicht nur gesagt sondern auch getan. Vielen - heute längst Erwachsene - hat sie als Hebamme auf die Welt geholfen, hat Kranke gepflegt, Kinder versorgt und in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Pfarrern Reisen organisiert, z.B. nach Lourdes und Fatima, aber auch Tagestouren für Kinder, die nicht in Urlaub fahren konnten.

Agnes Kern hatte wohl immer das Gefühl, den Franzosen hier etwas schuldig zu sein. Sie stammt aus dem Banat. Als "Adenauerdeutschland" die vertriebenen Banater nicht aufnehmen wollte, begann eine Odyssee. Madame Kern, ihr Mann und eine Gruppe Anderer landeten schließlich in Royan, wo sie wie in Onkel Toms Hütte an reiche Médocainer als Mägde und Knechte weitergegeben wurden. Aber ihre lange, unsichere Reise war zu Ende.

Madame Kern und ihr Mann arbeiteten hier an der Gironde für denselben Herrn. Nach allen Erzählungen muss die Arbeit sehr hart gewesen sein. Viel später dann, als sogenannte "Hälftler" in Couqueques, ging es wesentlich besser. Die "Reise" endete dann im eigenen Haus in Loirac. Ihren Mann haben wir nicht mehr kennengelernt. Er hat die Vertreibung aus dem Banat, die kräftezehrende Odyssee, die demütigende erste Zeit hier im Médoc schlechter verkraftet und ist früh verstorben.

Vor ganz vielen Jahren haben wir Madame Kern das Buch "Herbstmilch" von Anna Wimschneider gegeben und sie gebeten, auch ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. "Ach, dazu habe ich keine Zeit und kein Papier und keine Stifte", möglicherweise eine Ausrede? Papier und Stifte hatten wir schnell besorgt. Als wir sie dann einige Tage später trafen, sagte sie: "Ich komme nicht mehr zum Schlafen, ich schreibe die ganzen Nächte durch" - so hatten wir uns das vorgestellt.

Madame Kern lebte bis zu ihrem Tod ruhig in Loirac. Die Tochter bewohnte das Haus gegenüber, Enkel und Urenkel waren oft zu Besuch und neben ihren französischen Freunden traf man dort auch deutsche Freunde, denen sie geholfen hat - wie uns.

Auszüge aus den Aufzeichnungen:

Madame B. et autres histoires
Kriegsende
Fischen, Jagen und Baden
Wallfahrt nach Lourdes - Ferienlager
Wallfahrt nach Lourdes - Das Versprechen
Der Jahrhundertsturm

2011 Wil Sensen (Dignac)


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