Kriegsende im Nord-Médoc 10

Autor: Erwin Kindsgrab

Inhaltsübersicht
Alltag in Pin Sec (Tagebuch)

 

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4. August 45

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Ich fühle mich etwas besser … Das erste Mal versucht, einen Scheitel zu ziehen. Wie ein Stachelschwein sehe ich auf dem Kopf aus; wie eingepiekste Streichhölzer … Die Sonne von Pin Sec hat eine herrliche Macht. Mag der Himmel am Morgen noch verhangen sein, wenn es in die Minen geht, am Tag brüllt sie nur so auf uns runter.

5. August 1945

Der Sonntagmorgen unterscheidet sich nicht groß von den anderen Tagen…

8. August 45

Ich habe Schnitzel von einer Melone verspeist; von einem Franzosen geschenkt bekommen. Götterspeise! Und nun ist im Zimmer ein Duft zurück gekehrt, dass die Lungen viel zu eng sind, um diese Süße aus der weiten Welt der Freiheit völlig auszuschöpfen.

9. August 1945

Es regnet. Heute morgen war für die Katholiken eine Messe im Lager. Der Pfarrer von Vendays zelebrierte. Ich musste übersetzen und eine vorbereitete schriftliche Botschaft des Pfarrers vorlesen: er entbot im Namen Jesu Christo und der heiligen Mutter Maria seinen Gruß und ermahnte die Gefangenen zu dieser schweren Zeit, gläubig zu sein. Er bedauerte, unsere Sprache nicht zu sprechen, um uns Trost und Mut zu sagen … So kam ich dazu, das erste Mal an einer katholischen Messe teilzunehmen … Ein Altar mit Piniengrün war aufgebaut. Hinter dem greisen, weißhaarigen Pfarrer stand nur eine kleine Schar von elenden, abgerissenen verhungerten Gestalten, die sich an der Lehre der Nächstenliebe, über Sprachen und Rassen hinweg, aufrichten wollten ... Ich kann es nicht.

10. August 1945

Heute wieder einmal eine Laus geknackt. Geht das schon wieder los!

14. August 1945

Der franz. Lagerchef war in Bordeaux. Er hat mir Kleinigkeiten, über die ich mich wie ein Kind freue, franz. Und engl. Illustrierte, mitgebracht. Und Schulhefte, von denen er glaubt, ich brauchte sie für meine Lagerzeitung – er weiß nicht, dass ich sie fürs Tagebuch zweckentfremde … Am Abend nach dem Appell lese ich aus den Zeitungen vor: am 8. August erklärt Russland Japan den Krieg, das, wie Truman erklärte, von der Atombombe nichts wusste. Am gleichen Tag wird von der Überfestung ENOLA GAY die erste Atombombe nach Hiroshima getragen und um 9:15h ausgelöst … Am 1. August 10:30 Kapitulationsangebot an Japan…Widersprüche in den verschiedenen Zeitungen ... Mehr noch als die Japanangelegenheiten erregen uns und unsere Diskussionen drehen sich um die Auszüge aus einer Rede Trumans: die Vereinigten Staaten wollen nicht erobern, aber die von Fachleuten als nötig erachteten Stützpunkte zum Schutz des Weltfriedens besetzt halten. Bis zur Schaffung einer deutschen demokratischen Regierung wird Deutschland von den Besatzungsmächten verwaltet. Die Entwicklung von Landwirtschaft und ausschließliche Friedensproduktion wird gefördert. Die Deutschen dürfen kein höheres Lebensniveau haben, als die einst von ihnen besiegten und besetzten Länder. Man wird nicht wieder in den Irrtum verfallen und Deutschland Geld leihen, damit die Reparationen bezahlt werden können, sondern Deutschland wird in Natura, Maschinen, Rohstoffe, Lebensmittel etc. bezahlen. Ein neues Polen geht bis zur Oder und Neiße. Ein Teil Ostpreußens mit einem eisfreien Hafen kommt an Russland…Um so viel Neuigkeiten können sich für einen von aller Welt abgeschnittenen Gefangenen schon ein Strauß von Gedanken ranken!

15. August 1945

Es ist Feiertagsstimmung! Die Franzosen feiern einen besonders hohen katholischen Feiertag: Mariä Empfängnis. Um 8:00h erst aufgestanden und Körper unter beachtlichem Wasserverbrauch abgeseift – Seife vom „roten Jacques“ bekommen. Mittelscheitel andeutungsweise gezogen – Kamm vom „roten Jacques“ bekommen; eine gute kleine Handvoll Tabak auch bekommen…Die Behandlung hat die ärgsten Ecken abgeschleift. Das Mittagessen etwas besser; für die entwöhnten Mägen jedenfalls gut. Es scheint ein echter Ruhetag zu werden. Jedenfalls besser als der letzte Feiertag der Franzosen am 14. Juli: da war uns bei der Morgenmusterung auch besseres Essen versprochen worden. Stattdessen gab’s nur gar nichts, sondern setzte körperliche Pein: plötzlich stelle sich am 14.7. das Fehlen von 2 Mann aus der Freiw.-Minensuchbaracke heraus. „Bier“ und „Seidel“ – 2 Mann von meiner Besatzung – waren nicht aufzufinden.. Ihre Sachen fehlten. Nur die Decken lagen auf dem Fußboden: „Geflohen“! Die frz. Posten hatten nichts gemerkt. So hatten wir der französischen Mannschaft den Nationalfeiertag gründlichst verdorben und uns dazu. Und wie nett man zu uns war, kann man sich ausmalen: erst einmal wurden wir alle – jetzt genau 200 Mann – in eine Baracke eingesperrt. Ich allein durfte zum Dolmetschen der harten Befehle und Anordnungen mich draußen bewegen. Die Küche, die noch außerhalb der angefangenen Stacheldrahtumzäunung war, musst nicht nur das Kochen der Wassersuppe einstellen, sondern die ganzen Kübel in den Sand schütten. Visitationen aller Sachen. Unsanft, und Einziehen aller Sachen, die über Kochgeschirr und Löffel hinausgehen und die man sich langsam als wohlgehütete Juwele wieder begann anzusammeln. Fußtritte! Oh weh, jetzt wird man ganzes Geschreibe finden – und wenn man es übersetzt!! Bei jeder Fouille stehe ich daneben, 200 Mal – nur mich vergisst man am Schluss! Die Gefangenen bleiben den ganzen Tag eingeschlossen. Gegen Abend kommt man auf den Dreh, dass der angefangene Stacheldrahtzaun noch vollendet werden muss. Was man auch anfasst, nichts wird zur Zufriedenheit ausgeführt. Leck-mich-am-Arsch-Stimmung! Oberfeldw. Dietrich (dtsch. Lagerschef) und 10 Mann werden als volkseigene Antreiber angestellt mit der Drohung, sie als Geisel zu erschießen, wenn bis zur Dunkelheit der Zaun nicht fertig ist. Die elf Mann leben heute noch.

Aber heute ist das gegenseitige Vertrauen wiederhergestellt. Wir dürfen mit 5 Posten einen Ausflug in die Brombeeren machen; zur Vitaminaufbesserung. 6 Kochgeschirre haben wir zusätzlich für die Kranken im Revier mitgebracht.

16. August 1945

Man hat übrigens die 2 Ausreißer vom Nationalfeiertag 3 Tage später wieder eigefangen. So was Dummes: laufen am Strand längs und hinterlassen eine schöne sichtbare Spur. Nun wusste man, in welcher Richtung gesucht werden musste. 14 Tage Arrest, aber mit Heulen und Zähneklappern. Arrestzelle, ein auf die Türseite gelegtes Wehrmachtsspind. Ich muss dolmetschen…Gestern sind die Gefangenen das erste Mal etwas aus sich herausgegangen. Man sang bis zur Dunkelheit Heimatlieder. Französische Spaziergänger, die wohl aus einem Dorf von unten kommen müssen, hörten am Stacheldraht zu.

21. August 1945

Wir haben gestern Otto Damm begraben. Sein Grab liegt in Pinieneinsamkeit. Er ist mit feuchtem Sand bedeckt. Eine Mine zerriss ihn … Das Minensuchen ist sowieso eine primitive Angelegenheit. Nur ein magnetisches Gerät steht zur Verfügung. Ansonsten hat sich jeder einen Stab zusammengeschnitzt und an der Spitze mit einem Draht versehen. Und so picken eine ganze Reihe Fußbreit für Fußbreit den Boden durch. Darum sagen wir auch „Minen-Picken“ ... Gefangene in von den Korkeichen selbstgebastelten Holzlatschen, zerfransten Hosen, verschlissenen Jacken gehen mit gesenktem Kopf hinterm roh gezimmerten Sarg. 6 Mann von der Zivilwache schießen eine Salve übers Grab.

22. August 1945

In den Brombeeren. Es scheint mir im Augenblick das Köstlichste auf der Welt: Brombeeren zerquetschen und Brot reinkrümeln.

24. August 1945

Ich muss hier raus! Zukunftsgedanken quälen mich. Hier gehe ich vor die Hunde. Sehnsucht tut weh. Aber wie anstellen? So primitiv weglaufen, wie die 2 Matrosen, geht nicht. Vorbereiten kann man auch nichts, man kommt an nichts Vorbereitendes ran … Ein ganz unerquicklicher Tag heute. Zwar scheint die Sonne herrlich und verlockend, aber die Stimmung im Lager ist auf den Tiefstand: man hat den freiwilligen Minensucher die Sonderrationen weggenommen … Die nächsten Tage können unschön werden.

27. August 1945

Die Unruhe im Lager ist auf ihrem Höhepunkt angelangt. Die können uns doch nicht verrecken lassen. Bisher hatten die Minensucher wenigstens von Zeit zu Zeit eine Dose Ölsardinen oder ein paar Muscheln mehr. Nun werden wir alle über einen Löffel barbiert … Gestern mit 45 Mann in den Brombeeren gewesen. Sammeln in einen Topf. Jeder hat von den 200 Mann etwa ein halbes Kochgeschirr voll bekommen. Die Bitternis der Gefangenschaft wurde etwas gemildert. Oh, wie genügsam ist man geworden! ... Ein neuer Mann ist aus St. Vivien gekommen. Dort stehen jetzt Baracken.

3. September 1945

Mit einem Spaziergang in die Brombeeren hebt sich die Stimmung. Am Abend sind alle zufrieden…Gerüchte kursieren in den abgestuftesten Variante: Ablösung, ja sogar vom Entlassen-Werden.

7. September 1945

Es ist schwer, von der Stimmung zu sprechen. Die ersten Auszehrungserscheinungen machen sich bemerkbar. Die Leute sind gewogen worden, der Doktor hat sich eine Waage besorgen lassen: 32 Pfund im Mittel. Das höchste Untergewicht 64 Pfund. Der wiegt noch 42 kg. Ich wiege 121 Pfund. Die Verpflegung lässt sich kaum noch drücken. Gut und gerne kommt eine mittelgroße Kartoffel auf den Mann, dazu Wasser, um das Kochgeschirr zu füllen. In den letzten Tagen hatten 8-10 kg. Gemüse, Kohlblätter und Endiviensalat. Am Abend ¼ Rundbrot = 350 gr Katastrophale Lage! Marsch zu den Arbeitsstellen auf selbstgefertigten Korklatschen; Minen-Picken.

Vorgestern ist Unteroffizier Philipp Stoller verunglückt; linkes Bein total abgerissen, andere Bein stark angeschlagen – auf einem unzulänglichen LKW nach Bordeaux. Schicksal Rechtloser bei Pellkartoffeln! Man steht vor den französischen Wahlen. Die Wahlkampagne läuft auf vollen Touren. Keine Probleme, die uns interessieren.

10. September 1945

Ich zähle die Fliegen. Sie totschlagen wollen, habe ich nicht die Kraft; sie krabbeln im Ohr, zwischen den Lippen. Ich liege im Bett. Ich habe es sonst nicht gekannt, dass es mich alle Nase lang aufs Kreuz schmeißt … Die vorgestrige Nacht war qualvoll. Frieren mit Gänsehaut unter der Decke. Jedes Glied schmerzt; ein saures Gefühl in allen Knochen, Kopfschmerzen. Ich möchte auf dem Rücken liegen. Geht nicht; Kreuzschmerzen, überall Schmerzen…Wenn ich hochzukommen versuche: schwindelig. Aber morgen lass ich mich nicht mehr von den Fliegen quälen … Das Schreiben wird mir zu viel.

11. September 1945

Zu nichts Lust. Ich bin zu schwach auf den Beinen. Brennende Augen. Der Körper macht nicht mehr voll mit. Gleichgültig. Ich bin trotzdem aufgestanden, in der Koje würden mich die Fliegen und Flöhe auffressen … Es geht langsam, ganz langsam abwärts. Meine bisherige Frische und Energie ist angekratzt. Aber ich m u s s mich dagegen wehren. Ich m u s s mich zwingen, dass es mich nicht gänzlich auf den Boden wirft … Strasser liegt vor der Tür im Sand, weint, heult, haut mit den Fäusten ohnmächtig in den Sand, achtet nicht darauf, dass die Sandkörner sich mit den Tränen vermischen und sein Gesicht idotisch verzerren. Er lässt sich nicht aufheben; Menschentier, Depressionen! ... Ich kann selbst nicht viel denken. Das Schreiben tut weh.

12. September 1945

Noch immer Fieber: Trotzdem aufgestanden. Schlapp! Müde! Wenn ich nur eine greifbare anderweitige Ursache wüsste, wie Erkältung oder Schnupfen usw. So tut mir alles oder nichts weh. Seit gestern fängt meine Stimme an zu näseln – wie bei Polypen in der Nase. Ich muss mich anstrengen, wenn ich überhaupt einen Laut rauskriegen will. Heute Morgen Nierenschmerzen, oder sind das Alarmzeichen von dem Brachliegen der Gedärme und Innereien? Nach dem Mittagessen, wo jedenfalls abgekochtes Wasser mit Gemüseeinlage im Magen war, sind die Rückenschmerzen vorbei.

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aus seinem Kriegsbericht zum Ende der Festung Gironde Süd; der Text satmmt aus eines unebkannten Quelle und ist auch nicht vollständig. Für genauere Informationen dazu wären wir dankbar! Für die Wiedergabe in Médoc acif wurde er leicht gekürzt.